zwei Frauen stehen vor schmiedeeisernem Tor

Besuch bei Antonia Parrado, Ostern 2023

Eine Reise in die Vergangenheit

Christian Liebig war nicht der einzige Reporter, der am 7. April 2003 als „embedded journalist“ im Irak ums Leben kam. Mit ihm starb sein Freund und spanischer Kollege Julio Anguita Parrado. Ihm zu Ehren wird in Spanien seit vielen Jahren ein Journalisten-Preis vergeben.

Zur diesjährigen Verleihung, 20 Jahre nach dem tragischen Ereignis, reiste Beatrice von Keyserlingk nach Cordóba. Es ist eine befreiende Reise in die Vergangenheit, die einen wichtigen Kreis in ihrem Leben schließt.

Lesen Sie hier ihren bewegenden Bericht.

Am Mittwoch, eine Stunde vor Sonnenaufgang, verlasse ich das Haus und mache mich auf den Weg nach Cordóba. Es ist der 5. April 2023. Von München geht es mit dem Flieger via Frankfurt nach Madrid. Dort holt mich meine spanische Freundin Cristina de Silió ab und gemeinsam düsen wir mit einem Fiat 500 rund 400 Kilometer nach Süden. In den engen Straßen und verwinkelten Gassen der Innenstadt von Cordoba erweist sich unser kleiner Flitzer als Glücksgriff und bringt uns schneller ans Ziel als jeder SUV. 

Dennoch ist es spät geworden. Um 22 Uhr stehen wir vor der Tür von Antonia Parrado, der Mutter von Julio. Sie empfängt uns wie eine alte Freundin und zeigt sich hoch erfreut über unseren Besuch. Trotz der späten Stunde tischt sie gleich auf – Omelette und Suppe.

zwei hellhäutige Frauen lächelnd

Nach 20 Jahren treffen zwei starke Frauen erstmals aufeinander, die ein gemeinsames Schicksal verbindet.

Dank Cristina, die als Übersetzerin mitgekommen ist, können wir uns ganz gut verständigen. Antonia spricht Spanisch, ein bisschen Französisch und noch weniger Englisch. Ich leider nur sieben bis zehn Worte Spanisch. Trotzdem fühle ich mich sehr wohl – Antonia ist eine Seele von Mensch mit ausdrucksstarkem Gesicht, blitzenden grün-braunen Augen und einer unglaublich warmen Ausstrahlung.

Wir sind an diesem Abend reichlich erschlagen und wollen nach dem Essen eigentlich gern ins Bett. Aber das wird nichts, unsere quirlige Gastgeberin scheucht uns aus dem Haus und führt uns kreuz und quer durch die Gassen von Córdoba, immer auf der Suche nach einem der Umzüge der geheimen Bruderschaften, die zu Semana Santa (die Osterwoche) stundenlang mit spitzen Hüten und vermummten Gesichtern große Kerzen und schwere Aufbauten mit Maria und Jesus durch die Stadt schleppen.

Erst gegen 2 Uhr morgens sind wir wieder zu Hause. 

Manchmal laufen Tränen über ihre Wangen

Zwei Frauen vor Kirche in Spanien

Córdoba: Antonia Parrado und Beatrice von Keyserlingk vor der Kirche San Antonio.

Ich schlafe in Julios altem Zimmer, mit Casablanca- und Chè-Guevara-Postern und vielen Büchern, darunter einige von und über seinen Vater Julio Anguita, den früheren Kommunistenführer in Spanien. Ein Foto von Julio steht neben einem aufgeschlagenen Kalender, April 2003. Ich gehe kurz in mich und überlege, ob ich das jetzt unangenehm finde, in einem anscheinend seit 20 Jahren unveränderten Zimmer zu schlafen, und setze mich aufs Bett. Nein, sage ich zu mir, es fühlt sich gut an. Überhaupt kein Problem, im Gegenteil.

Ich schlafe wunderbar und tief und werde von lautem Vogelgezwitscher geweckt. Wir bekommen Kaffee dazu Toast mit Olivenöl und frischen Tomaten sowie köstlichen, frischgepressten Orangensaft. 

Wir erzählen uns viel über unsere Familien. Antonia über ihre anderen zwei Kinder, ihre Enkeltochter, ihren Ex-Mann, Julios Vater, über die Vergangenheit und über Reisen – und zwischendrin immer wieder über Julio und Christian.

Manchmal laufen ihr Tränen über die Wangen, aber einen Augenblick später kann sie schon wieder lachen. Wir umarmen uns viel und freuen uns, dass wir unseren Plan hierherzukommen, verwirklicht haben.

Es ist im April schon herrlich warm in Córdoba und diese Stadt ist wunderschön.

Ich gehe mit Cristina den Ablauf für den nächsten Tag durch und meine Rede anlässlich der Verleihung des Journalistenpreises. Ich werde sie auf Deutsch halten und sie wird sie ins Spanische übersetzen. 

Wir laufen mit Antonia durch die Stadt. Sie zeigt uns die Schule, in der Sie unterrichtet hat, eine andere, in der sie Leiterin war. Die Schule, auf die Julio ging. Die Kirche, in der sie geheiratet hat. Das Haus, in dem Julio mal zwischendrin wohnte. Immer wieder treffen wir Leute, die sie umarmen, kurz mit ihr schwatzen und, wenn sie erzählt, wer wir sind, auch uns umarmen. Es ist schön, so intensiv mit ihr zusammen zu sein.

Julios Vater, ein Oppositionspolitiker, war gegen den Krieg

Wieder zu Hause angekommen, suchen wir gemeinsam Fotos raus. Eins von Julio, eins von Christian und Cristina macht eine Aufnahme von Antonia und mir mit den beiden jungen Männern auf den Fotos in unseren Händen. Und dann sitzen wir im selben Zimmer, in dem sie vor 20 Jahren die Todes-Nachricht bekommen hat – damals war sie 58 Jahre alt, ihr Sohn Julio 32.

Antonia berichtet, wie alles anfing. Genau wie Christian, erzählt Julio seiner Mutter vom Einsatz im Irak erst, als es quasi schon losgeht. Er hatte ihr nicht gesagt, dass er die militärische Journalisten-Ausbildung für Kriegseinsätze gemacht hatte und auch nicht, dass er sich beworben hatte, als „embedded journalist“ mit in den Irak zu reisen. Er lebte damals in New York und arbeitete dort für das Büro von „El Mundo“. Er sagte es ihr erst, als er im März kurz nach Hause kam und dann von Madrid nach Kuwait flog. Noch war nicht völlig klar, ob es tatsächlich Krieg geben würde, und so hoffte sie, genau wie wir, dass er vielleicht „unverrichteter Dinge” wieder nach Hause käme.

Sie fragte ihn: „Wie kannst Du dort hinfahren, während ich hier auf die Straße gehe und für Frieden und gegen den Krieg demonstriere. Während dein Vater sich gegen die USA stellt, sich mit allen anlegt und als spanischer Oppositionspolitiker gegen diesen Krieg ist?”

Jemand muss die Wahrheit schreiben

zwei Frauen mit Bildern von jungen Männern in der Hand

Beatrice von Keyserlingk und Antonia Parrado mit Bildern von Christian und Julio.

Weil sein Vater Julio Anguita in den USA als „Anti-Americano“ bekannt war, hatte sich Julio unter dem Familiennamen seiner Mutter, Parrado, beworben, um bei den US-Truppen „eingebettet“ zu werden.

Er sagte, er muss dorthin, um zu berichten – jemand muss die Wahrheit schreiben. Auch er war gegen den Krieg und glaubte nicht an die Geschichte von Massenvernichtungswaffen.

Sie hatte gleich ein ungutes Gefühl

Antonia hatte vor 20 Jahren allein in dem kleinen Esszimmer gesessen und Nachrichten geschaut, als ohne Namensnennung von einem  Raketeneinschlag in einem US-Militärstützpunkt nahe Bagdad berichtet wurde, bei dem auch Journalisten ums Leben kamen.

Sie hatte gleich ein ungutes Gefühl und rief ihre Tochter an, bat sie, mehr herauszufinden, bei seiner Zeitung anzurufen, da sie sich selbst nicht in der Lage dazu fühlte. Gegen kurz nach 21 Uhr erhält sie die schreckliche Gewissheit. Das Pentagon hatte den Vater angerufen und ihm mitgeteilt, was passiert war. Zu diesem Zeitpunkt läuft die Nachricht schon über den TV-Ticker – auch Christians Name wird bereits genannt. Noch bevor wir in Deutschland die Bestätigung zu unseren Vorahnungen haben. Julios Vater sagte danach immer, er würde nie den Schmerzensschrei vergessen, den Antonia ausgestoßen hatte.

Zeitungsausschnitt el Mundo

Aus Vorahnung wurde entsetzliche Gewissheit: Nachricht zum Tod von Julio Parrado in El Mundo.

Julios Seesack steht immer noch unangerührt in seinem Schrank

junger mann im blauen Hemd und schwarzem Mantel

Julio Anguita Parrado – wie Christian Liebig ein „Mann des Wortes, kein Soldat“

Am Morgen des 7. April hatte sie noch mit Julio telefoniert, der Christians Satelliten-Telefon ausgeliehen hatte. Ihr Sohn erzählte, dass er bereits im TOC (Technical Organisation Center) in der Nähe von Bagdad angekommen war. Dass er nicht mit in die Hauptstadt reinfahren könnte, weil die Schutzweste, die er dabei hatte, für solch einen Einsatz nicht ausreichend sei. Sie sagt heute, dass die Zeitung ihn nicht besonders gut ausgestattet hatte – weder mit einem ordentlichen Satelliten-Telefon noch mit guter Schutzkleidung.  

Inzwischen weinen Antonia und Cristina beide – ich fühle mich durch das Hin und Her der Übersetzung ein bisschen wie hinter einem Filter und frage weiter. Auch Antonia wird, wie Christians Mutter Sieglinde in Deutschland, kurze Zeit später Blut abgenommen, um die getöteten Reporter identifizieren zu können. Auch deshalb keimte damals immer noch Hoffnung bei ihr, dass es vielleicht gar nicht Julio sei, der da gestorben ist. Ich weiß genau, was sie meint. 

Ungefähr zwei Wochen später wird Antonia das Gepäck ihres Sohnes zugestellt. Es ist staubig – sie nimmt nur den Hut heraus, der oben drinsteckt, und hängt ihn an ihre Garderobe. Den Rest hat sie nie ausgepackt, der Seesack steht immer noch unangerührt in seinem Schrank. Julios sterbliche Überreste kamen in einer nicht zu öffnenden Safe-Box zurück nach Hause. Ich weiß nicht, wie das bei Christian war. Er wurde kremiert und wir hatten eine Urnenbeisetzung. Julio wurde beerdigt.

Die beiden jungen Männer hatte sich bereits in Kuwait kennengelernt. Dort wurden alle Journalisten unterschiedlichen Truppenteilen zugeordnet. Eigentlich war Julio für eine andere Einheit vorgesehen, tauschte aber mit einer spanischen Kollegin, die so am Leben blieb. Auch mit ihr hat Antonia heute noch Kontakt, sie lebt immer noch in New York.

16. Verleihung des Premio Julio Anguita Parrado

Den 7. April, den 20. Jahrestag des Todes von Christian und Julio, beginnen wir vergleichsweise spät und gehen um 11 Uhr zu Fuß zum Rathaus, in dem die Feierlichkeiten und die Preisübergabe stattfinden. Es sind bereits einige Leute da, Presse, Freunde und Familie. Ich werde sehr herzlich begrüßt und umarmt, niemand spricht Englisch, aber die Gesten und Gesichtsausdrucke sagen alles.

Seit 16 Jahren wird dieser Preis verliehen. Es gibt eine fünfköpfige Jury, ein Mitglied kommt immer aus Julios Familie – viele Jahre war es die Mutter, jetzt ist es Julios Onkel José Louis Anguita. Die Jury muss aus sehr vielen Vorschlägen auswählen. Der Preis ist mit rund 2500 Euro vergleichsweise niedrig dotiert, aber wegen seines Hintergrundes sehr gut angesehen. 

Die Moderatorin der Veranstaltung begrüßt mich sehr lieb und schafft es, Christian Liebig sehr würdig in den Festakt zu integrieren. Es sprechen Francisco Terrón Ibanez (Generalsekretär der Journalisten-Gewerkschaft), ich, der Onkel Julios, die Preisträgerin Gemma Parellada, der Direktor der Journalistischen Fakultät und eine Abgeordnete. Cristina übersetzt flüsternd und fast simultan in mein Ohr. Es sind tolle Reden – inhaltlich und emotional.  

Danach folgen Foto-Termine – ich werde mit auf jedes Foto gezerrt – ich gehöre richtig dazu. Ich habe das Gefühl, dass es der Familie wirklich etwas bedeutet, dass ich gekommen bin – vor allem Antonia. 

Vier Personen in Saal

Feierlicher Akt in Gedenken an Julio Parrado: Francisco Terrón Ibanez, Gemma Parellada, Beatrice von Keyserlingk, José Louis Anguita.

Preisträgerin Gemma Parellada, eine renommierte Afrika-Reporterin

zwei Frauen umarmen sich

Fast wie im Drehbuch: Preisträgerin Gemma Parellada berichtet seit mehr als 10 Jahren aus Subsahara-Afrika.

Die Preisträgerin Gemma Parellada ist eine tolle junge Frau, die seit zehn Jahren an der Elfenbeinküste lebt und von dort aus über Afrika berichtet. Wir verabreden, dass sie, wenn sie es irgendwie schafft, im Oktober auch nach Malawi kommt – da war sie noch nicht und das Land steht oben auf ihrer Liste. 

Am Nachmittag geht’s dann zur nächsten Veranstaltung, zum Platz der nach Julio benannt wurde. Dort treffen sich viele ehemalige Freunde von Julio, darunter auch einige Journalisten. Es werden Blumen an einem großen weißen Stein abgelegt, auf dem eingemeißelt steht: 

Jardines Periodista
Julio Anguita Parrado
Muerto en la Guerra
de Irak – Abril 2003    

Ein Kreis schließt sich

Am Nachmittag geht’s dann zur nächsten Veranstaltung, zum Platz der nach Julio benannt wurde. Dort treffen sich viele ehemalige Freunde von Julio, darunter auch einige Journalisten.

Es werden Blumen an einem großen weißen Stein abgelegt, auf dem eingemeißelt steht: 

Jardines Periodista
Julio Anguita Parrado
Muerto en la Guerra
de Irak – Abril 2003    

Eine Freundin Julios liest ein trauriges Gedicht vor, das den Krieg thematisiert. Dann hält Antonia eine emotionale Rede, in der sie auch von mir berichtet und darüber, was Christian für Julio getan hat.

Und sie erzählt von unseren vielen und traurigen Gesprächen dieser Tage.

Alle haben Tränen in den Augen. 

drei Frauen sitzen vor einem weißen Gedenkstein

Gedenkstein zu Ehren Julios: Gemma Parellada, Beatrice von Keyserlingk und Antonia Parrado

Weil Antonia in der Osterzeit in viele Kirchen geht, jedem Jesus- und Maria-Umzug folgt und so viel über Kirchengeschichte weiß, dachte ich, sie sei sehr religiös. Aber in einem weiteren intensiven Gespräch erfahre ich, dass sie Agnostikerin ist. Als Frau des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei war Katholizismus ohnehin nicht angesagt.

Sie zweifelt an einem liebenden, alles regelnden Gott und befürchtet, dass das hier auf Erden alles ist. Ich erzähle ihr von meinem nicht katholischen, aber doch christlich geprägten Gedanken dazu und wie Christian, ebenfalls Agnostiker, darüber dachte. Wie er zu mir gesagt hatte: „Ich hoffe Du hast Recht, dass es ein Danach gibt – das wäre viel schöner.” Und ich erzähle ihr von dem Traum, den ich nach Christians Tod hatte, in dem er zur mir sagte: „Jetzt weiß ich, dass Du recht hast.”    

Es ist gut, dass wir bis Ostermontag bei Antonia bleiben und mehr Zeit gemeinsam verbringen – es wäre nicht richtig gewesen, nur zu der Preisverleihung zu kommen und gleich wieder wegzufahren. Die Gespräche sind für uns beide wichtig – es besteht zwar von Anfang an eine Innigkeit und Vertrautheit, aber jetzt erst, am Ende der Reise fühlt es sich richtig an und es tut Antonia, aber auch mir sehr gut. Irgendwie schließen wir einen Kreis, heben den diffusen Nebel von dieser „anderen Familie, die dasselbe Schicksal erlitten hat”.  

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