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Ich will der Leere etwas Sinnvolles entgegensetzen.

Bagdad, 7. April 2003. Christian Liebig hat es geschafft. Als einer der wenigen deutschen und weltweit insgesamt 600 akkreditieren Journalisten, begleitet er die 2. Brigade der 3. US-Infanteriedivision, bei der er „embedded“ – eingebettet ist, auf ihrem Vormarsch auf die irakische Hauptstadt. Er ist da, wo er immer sein wollte. Am unmittelbaren Ort des Geschehens, um so wahrheitsgetreu wie nur möglich über das zu berichten, was er mit eigenen Augen sieht und hört.

Er ist froh über die direkten Informationen des Kommandostabes, bleibt aber wie schon zuvor bei seinen Einsätzen im Kongo, in Somalia und im Kosovo unbestechlicher Kriegsbeobachter. Dies macht auch die Qualität seiner Reportagen aus: sie sind unmittelbare, unverfälschte Augenzeugenberichte. Mit seinen Worten versteht er, ein eindrückliches, authentisches Bild des Krieges zu zeichnen. Er braucht keine Fotos.

Christian Liebig führt ein Online-Kriegstagebuch, informiert die Kollegen von der FOCUS-Redaktion per Satellitentelefon mehrmals am Tag über die Geschehnisse und berichtet auch regelmäßig im hessischen Privatradio FFH. Er ist kein Abenteurer, der leichtsinnig sein Leben aufs Spiel setzt und die Gefahr sucht, sie auf der Suche nach der Wahrheit aber auch nicht scheut.

Christian Liebig: Kein Draufgänger.

„Keine Story ist es wert, für sie zu sterben“, hat er erst vor wenigen Wochen in seinem Online-Tagebuch geschrieben und sich deshalb an diesem Morgen auch bewusst gegen sie entschieden. Zusammen mit seinem spanischen Kollegen Julio Anguita Parrado von der Tageszeitung „El Mundo“ ist er im Hauptquartier der 2. Brigade 15 Kilometer vor der Stadt geblieben. Aus Vorsicht haben Parrado und er darauf verzichtet, die auf die Präsidentenpaläste Saddam Husseins vorrückenden Kommandos zu begleiten.

Christian denkt dabei auch an die ständige Angst, die seine Eltern und seine Lebensgefährtin zuhause um ihn ausstehen. Und an die Pläne, die Beatrice und er vor seiner Abreise in den Irak noch geschmiedet haben. „Ich glaube, ich habe die wichtigste Entscheidung meines Lebens getroffen“, sagt er am Abend zuvor deshalb auch noch seinem Chefredakteur Helmut Markwort am Telefon. Und schiebt lachend nach, als dieser ihm antwortet, er möge nichts riskieren: „Ich habe mich gegen den Pulitzer-Preis entschieden und für meine Sicherheit.“

Gegen den Pulitzer-Preis, vermeintlich für die Sicherheit

„Einer jener Augenblicke im Leben, in denen man absolut machtlos ist.“

Soll man es schicksalhaft, grotesk, tragisch oder alles gleichermaßen zusammen nennen, dass ausgerechnet Christians Vorsicht ihn sein Leben kostet?

Der Vorstoß der Truppen auf die Präsidentenpaläste ist geglückt, die Kämpfe um die Hauptstadt dauern jedoch noch an. Christian steht im Hauptquartier direkt neben dem Kommandostab, hat die guten Nachrichten über das Gelingen der Aktion kurz zuvor noch an seine Redaktion übermittelt und auch seine Eltern angerufen: „Schaltet mal FFH ein, da kommt ein Interview mit mir“. Dann entfernen er und Parrado sich ein Stück, um weitere Nachrichten zu übermitteln. Es ist der Moment, in dem die irakische Boden-Boden-Rakete, die einzige, die während dieses Krieges menschliche Ziele trifft, keine 5 Meter von ihnen entfernt einschlägt.

Der amerikanische Oberstleutnant Eric Wesley, der oft mit den beiden Journalisten über den Sinn des Irakkrieges diskutierte, meint später, dass alles so rasend schnell ging und Christian sofort tot gewesen sein muss. „Alle hatten sich kein bisschen von dem Platz bewegt, an dem sie zuletzt gesehen worden waren. Es war einer jener Augenblicke im Leben, in denen man absolut machtlos ist.“

Nach dem Einschlag und der anschließenden, unglaublich lauten Explosion, brechen überall im Camp Feuer und Panik aus. Gebäude, Fahrzeuge und Gerätschaften stehen sofort in Flammen. Neben Christian und Parrado kommen noch drei US-Soldaten zu Tode, vierzehn weitere sind verletzt.

Christian Liebig ist der einzige Deutsche von insgesamt 14 Journalisten, die im Irak ihr Leben verlieren. Seine Kollegen, die den gefährlichen Vorstoß des amerikanischen Kommandos auf die Präsidentenpaläste an jenem Tag begleiteten, während Christian aus Sicherheitsgründen im Hauptquartier blieb, kehren hingegen alle wohlbehalten zurück.

Die Anteilnahme, die der Nachricht vom Tod des gerade erst 35 Jahre alt gewordenen Reporters folgt, ist riesig. Hunderte von Briefen und E-Mails erreichen die FOCUS-Redaktion. Leser, Politiker, Kollegen, Freunde und Bekannte drücken in rührenden Worten ihr Beileid aus, würdigen Christians Arbeit und Menschsein, versuchen, seiner Familie und Lebensgefährtin wenigstens ein bisschen Trost in ihrer Trauer zu spenden. Und Helmut Markwort kündigt an: „Wir wollen seine Arbeit unvergessen machen.“

Kann jedoch bei einem solchen Verlust wirklich Trost gespendet und Christian Liebigs Arbeit tatsächlich unvergessen gemacht werden?

Ich konnte und wollte ihn nicht zurückhalten

Ja, sagt Beatrice von Keyserlingk, Christians ehemalige Lebensgefährtin, wenn sie heute, 17 Jahre nach seinem Tod, auf diese beiden Punkte angesprochen über die Zeit nach Christians Tod spricht und eine Art Bilanz zieht.

Der 7. April 2003 ist für Beatrice zunächst ein Tag wie jeder andere auch. Wie Christians Eltern hat auch sie gelernt, mit der Angst um ihn zu leben. Das Risiko bei seinen Einsätzen als Reporter in Krisengebieten war immer hoch, auch wenn er ihnen versprach, nicht mit den Truppen mitten ins Geschehen, an die vorderste Front zu gehen. Beatrice wusste außerdem, wie wichtig Christian seine Arbeit war. Dass sie seine Berufung war, ihn glücklich machte.

„Christian wollte in den Irak. Ich konnte und wollte ihn nicht zurückhalten.“ Dennoch bleibt die Sorge um ihn ihr ständiger Begleiter. Auch an diesem Morgen, nachdem sie eben noch mit seinen Eltern telefoniert hat, die ihr erzählen, gerade von ihm gehört zu haben, denkt sie: „Wieder ein Etappensieg – bis JETZT ist alles in Ordnung – immer mit dem surrenden Gefühl, dass sich das minütlich ändern kann“.

Beatrice von Keyserlingk: „Gelernt, mit der Angst um ihn zu leben.“

Beatrice ist gelernte Goldschmiedin und an diesem Tag zusammen mit ihrem Chef auf einer Messe in Basel. Sie besorgt sich den FOCUS, „weil hier natürlich immer Berichte und Fotos von Christian zu lesen und zu sehen waren“. Den neuesten Artikel von ihm zeigt sie mittags noch einer Kollegin und fährt mit dem Daumen über das Foto, das ihn in einer wüstenartigen Landschaft in khakifarbener Kleidung zeigt und sagt: „Mensch, du siehst ja ganz schön staubig aus.“

Dann, am Nachmittag, kommt der Anruf. Ellen Daniel, eine sehr gute Freundin Christians und Kollegin beim FOCUS, mit der er sich in der Redaktion auch das Büro teilt, ist am Apparat.

Christians Redaktions-Kollegin Ellen Daniel spricht als erste mit Beatrice.

„Sie sagte mir, es habe einen Anschlag auf das TOC (Technisches Organisations-Center des amerikanischen Militärs außerhalb von Bagdad) gegeben und man habe seitdem den Kontakt zu ihm verloren. Es gäbe noch keine Bestätigung und sie könne und wolle das auch noch nicht glauben, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es Christian getroffen hätte, wäre relativ groß, was allerdings genau passiert sei, wisse man noch nicht.

Sie war sehr aufgeregt und klang verzweifelt, wollte auch noch hoffen, aber in diesem Moment war ich schon ziemlich sicher, dass es ihn erwischt hatte. Ich stand zu diesem Zeitpunkt in einem durch einen Vorhang abgetrennten Hinterzimmer der Messe, rutschte mit dem Hörer in der Hand an der Wand runter auf den Boden – ein Gefühl, als hätte ich eine Eimer Säure getrunken: Eigentlich keine Hoffnung mehr, obwohl Ellen mir noch immer beteuerte, es wäre noch nichts sicher, nichts bestätigt.“

Die Wartezeit beginnt. Noch über Stunden hinweg lässt sich nichts weiter herausfinden, gibt es nur Gerüchte, darunter auch das, dass es sich um einen anderen deutschen Journalisten handele. Beatrice wird von ihrem Chef ins Hotel gebracht, wo sie auf ihren Vater und seine Frau wartet, die sich, nachdem sie von dem schrecklichen Verdacht erfahren haben, sofort auf den Weg machen, um sie in Basel abzuholen, oder, sollte sich das Schreckliche nicht bestätigen, mit ihr zu feiern.

Doch noch bevor sie ankommen, hat Beatrices Stiefbruder, der damals in Spanien lebt, schon über den dortigen Nachrichtenticker von Christians und Julio Anguita Parrados Tod sowie dem dreier Soldaten erfahren und weitergegeben.

Beatrices Lebenstraum ist mit Christians Tod von einer Sekunde zur anderen zerplatzt

Beatrices Vater kann seine völlig apathische Tochter nur noch ins Auto packen und mit ihr nach München zurückfahren. Er und seine Frau bleiben bei ihr. Beatrices persönlicher Lebenstraum ist mit Christians Tod von einer Sekunde zur anderen zerplatzt. Der Traum vom Heiraten, von Familie, vom gemeinsamen Altwerden. Pläne hatten sie vor seiner Abreise in den Irak noch geschmiedet.

„Der Plan war, dass Christian als Korrespondent in Südafrika arbeitet und wir beide dort hinziehen.“ Noch vor Ostern wolle er nach Hause zurückkehren, mailte er ihr noch wenige Tage vor seinem Tod. „Pünktlich zur Spargelzeit.“ Er sagte, er habe genug gesehen von diesem Krieg, in dem Grauen und Leid den Alltag bestimmten. Mehr als er wolle. 

„Christian war der erste Mann, bei dem mir der Gedanke, mit ihm Kinder zu bekommen, keine Angst machte – davor und danach ist das leider nicht mehr passiert. Mein Herz war damals sehr, sehr wund.

Ein paar Tage war ich wie gelähmt – heulte die ganze Zeit und handelte nur auf direkte Aufforderung – aufstehen, waschen, anziehen, essen. Meine Stiefmutter, meine Familie, meine Freunde kümmerten sich rührend um mich. Dann aber war mir plötzlich klar, so kann man das nicht stehen lassen. Mein Vater sagte, ich trauere wie eine Insulanerin. Kurz und heftig, dann geht es weiter. 

Tatsächlich habe ich von Anfang an viel über Christians Tod gesprochen, sowohl mit meiner Familie als auch mit Freunden. Und ich fing an, die positiven Aspekte für mich zu finden:

Christian hatte nicht gelitten, er war sofort tot gewesen … Seine größte Angst: Entführung, Folter, Verstümmelung war nicht eingetreten … Er war bei dem gestorben, was er am liebsten machte: als Journalist vorne mit dabei sein … Keiner hätte ihn davon abhalten können, es war seine eigene Entscheidung … Zum Zeitpunkt seines Todes war er mit seinem Leben zufrieden … Er war jobmäßig, wo er sein wollte … Hatte eine Frau, die er heiraten wollte … Und zwischen uns gab es nichts Unausgesprochenes, wir waren sehr liebevoll und klar vor seiner Abreise auseinandergegangen. Seine starke und liebevolle Energie war auch jetzt ganz deutlich zu spüren.“

Warmherzige Anteilnahme und eigene positive Lebenseinstellung helfen bei der Verarbeitung

Beatrice v. Keyserlingk

„Im Gegensatz zu vielen Opfern des Krieges vor Ort hatte ich eine Perspektive, würde mein Leben weitergehen.“

Auch die große öffentliche Anteilnahme und der Zuspruch, die unmittelbar auf die schreckliche Nachricht folgen, geben ihr Halt und Kraft. „Ich kam mir dadurch nicht so allein vor.

Aber auch dadurch, dass Christian sozusagen in einer Katastrophe mit unendlich vielen anderen Todesopfern umgekommen war und nicht als Einzelperson starb, gab es so etwas wie ein kollektives Trauererlebnis, gemeinsam mit vielen Müttern und Ehefrauen und Kindern im Irak. Von Anfang an war mir deshalb klar, dass mein Leben – im Gegensatz zu vielen Opfern des Krieges vor Ort – weitergehen würde, dass ich Perspektiven hatte.“

Liebevolle Briefe von Wildfremden, meist von Frauen, manche von sehr alten Damen, erreichen sie und machen ihr – damals noch vor den ersten Einsätzen in Afghanistan – bewusst:  „Ich bin die jüngste deutsche Kriegswitwe. Christians Tod hatte diesen Krieg, bei dem wir Deutsche ja eigentlich gar nicht dabei waren, in unsere Wohnzimmer geholt. Plötzlich waren alle ganz nah dran. So nah dran, wie wir es seit einer ganzen Generation schon nicht mehr waren – ein kollektiver Schock, dass es sich dabei nicht um ein Spiel oder eine Fernsehserie handelte, sondern um grausame und traurige Realität.“

Beatrice erfährt auf diese Weise auch erstmals, wie viele Menschen Christians Tagebuch aus dem Irak online gelesen haben. „Sie schrieben mir, wie sehr sie seine Offenheit und Objektivität schätzten. Dabei hatte er oft so kritisch geschrieben, dass wir befürchteten, die Amis würden ihn nicht mehr lange in ihren Reihen dulden und bald heimschicken, was zwar leider nie passiert ist – aber dadurch erfuhr er eben auch viel Ehrliches von reflektierten Menschen.“

Natürlich gibt es auch sarkastische Briefe, die sie über die FOCUS-Redaktion erreichen, in der die Schreiben an sie gesammelt und gefiltert werden. Meist in dem Tenor gehalten, ob sie denn etwa erwartet hätte, dass „die Soldaten im Irak mit Blümchen im Lauf unterwegs wären“. Oder dass, wer sich in Gefahr begäbe, eben auch damit rechnen müsse, dass so etwas geschähe.

Einer der Briefe enthält sogar „gruseligerweise“ einen Heiratsantrag  – als Reaktion auf die Bilder, die die Zeitungen von ihr bringen. „Der Brief war so absurd, dass er schon fast wieder komisch war“, erzählt Beatrice, die aber auch das Verhalten einiger Zeitungen als absolut negativ erinnert.

„Die versuchten natürlich, an private Informationen und rührseliges Material zu kommen, und fingen an, Freunde und Bekannte bis hin zum Wohnungseigentümer anzurufen. Daraufhin räumten wir in einer Nacht- und Nebel-Aktion Christians Wohnung aus, um weitere solche Übergriffe zu vermeiden.“

Sarkastische Briefe, ein Heiratsantrag und ein Herumstochern im Privaten bleiben zum Glück die journalistische Ausnahme.

Beatrice gelingt es auf diese Weise und dank des damaligen Pressesprechers von FOCUS, „der mich gut beriet und sich zur Not wie ein Löwe vor mich warf“, völlig außerhalb dieser Art von Presse zu bleiben. Einer Art von Journalismus, die Christian „immer tief verabscheut und als ,Witwen-Schüttler‘ bezeichnet hat – Reporter die plötzlich bei einem vor dem Haus stehen und den Fuß in die Tür stellen“.

Aber das sind die Ausnahmen. Insgesamt hilft die überwiegend warmherzige Anteilnahme Beatrice bei ihrer Trauerbewältigung.

Bildung für Afrika auf Augenhöhe: mit etwas Zukunftsgerichtetem Christians Namen in Ehren halten

Genauer Beobachter: Christian Liebig hatte eine klare Meinung, was gute Entwicklungshilfe ausmacht.

Hinzu kommen ihre positive Lebenseinstellung, die Gedanken an die vielen Gespräche, die sie mit Christian über Afrika führte, und der Wunsch, seine Arbeit tatsächlich unvergessen zu machen. Zusammen mit Christians Eltern, Freunden und Kollegen gründet sie die Christian-Liebig-Stiftung e.V., einen Verein zur Unterstützung von Bildungsprojekten in Afrika.

„Das Gefühl, die aus der kollektiven Trauer und Anteilnahme gezogene Energie unbedingt bündeln zu müssen und nicht verpuffen lassen zu dürfen, stellte sich sehr schnell ein – nach drei Tagen war die Idee zur Stiftung in ihrer Grundstruktur bereits geboren.“

Den gedanklichen Leitfaden für die Aufgaben, die diese übernehmen sollte, hatte ihr Christian zu seinen Lebzeiten noch vorgegeben. Nun würde sie seine Vorstellungen eins zu eins umsetzen.

Wie oft hatte er verschiedenen Hilfsorganisationen immer wieder mit Pressetexten ausgeholfen und sich über die Jahre hinweg ein klare Meinung darüber gebildet, was eine gute und was eine schlechte Entwicklungshilfe ausmacht. Wie oft hatten sie insbesondere über diesen Punkt gesprochen. Und auch darüber, in Afrika zu einem oder zwei eigenen Kindern noch eines hinzu zu adoptieren.

Beatrice von Keyserlingk und ihr Patenkind Florence.

„Das Thema Bildung und Aufklärung hat Christian immer als einzige echte Entwicklungshilfe angesehen – als die Möglichkeit einer Hilfe zur Selbsthilfe. Das hat er mir gegenüber in vielen Gesprächen oft zum Ausdruck gebracht. Meine Rolle vor Ort hätte ich dabei allerdings erst noch finden müssen, war aber besten Mutes.“

Nun hatte sie die Gelegenheit dazu. Mit Helmut Markwort, dem damaligen Chefredakteur vom FOCUS, und Christians unmittelbaren Ressortchef Ulrich Schmidla bespricht sie ihre Pläne zur Gründung eines Vereins, wie Christian ihn sich vorgestellt hatte. „Genau wie ich sahen sie in dieser der Zukunft zugewandten Aufgabe eine Chance und außerdem eine schöne Möglichkeit, mit wirklich sinnvollem Tun Christians Namen in Ehren zu halten. Helmut Markwort kündigte volle Unterstützung an, wenn ich bereit sei, mich als Gesicht des Vereins nachhaltig zu engagieren. Ein Nein war deshalb keine Option für mich, und die letzten 17 Jahre haben nahezu alle, die die Stiftung mit mir angeschoben haben, mit ungebrochener Motivation ihre Versprechen eingehalten.“

Viel hat der Verein seitdem geleistet. 25 Grund- und Sekundarschulen für rund 24.000 Schüler, die in ihnen unterrichtet werden, hat er mittlerweile gebaut, viele Bildungsprojekte ins Leben gerufen und Stipendien vergeben. Vorwiegend in Malawi, ab 2007 aber auch für einige Jahre im Nachbarland Mosambik. Waisenhäuser wurden finanziert. Zudem zwei Wohnhäuser für 130 Schülerinnen errichtet, damit sie einen sicheren Platz zum Leben und Lernen haben. Auch eine Backstube zur Ausbildung benachteiligter Kinder zählt zu den Engagements des Vereins.

„Bildung ist und bleibt unser Hauptanliegen. Es ist kein Almosen, man begegnet sich auf Augenhöhe, gibt Anleitung zu Selbsthilfe, erhält die landeseigene Kultur und stärkt das Selbstbewusstsein. Schafft keine Abhängigkeiten.“

Kein Almosen, sondern eine Entwicklungshilfe auf Augenhöhe – das ist das Selbstverständnis der CLS.

Ihre Arbeit bei der Stiftung, der sie seit nunmehr 17 Jahren nebenberuflich in ihrer freien Zeit und im Urlaub „in Christians Namen“ nachgeht, erfüllt Beatrice bis heute. Sie war und ist das beste Mittel, „der Leere und Sinnlosigkeit, die Christians Tod hinterlassen hat, etwas Gutes entgegenzusetzen“. Darüber hinaus hält sie ihr Engagement auch für das beste Rezept, um nicht in Selbstmitleid zu zerfließen, das sie für ein „völlig unnützes Gefühl“ hält. „Es bringt einen kein Stück weiter und vereitelt jede Chance, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken –, es bedeutet Stagnation.“

Kein Patentrezept, aber geübt im Umgang mit Verlust und Trauer

„Geübt“ im Verlust nahestehender Menschen: Christian ist die vierte geliebte Person, die ihr der Tod raubt.

Beatrice von Keyserlingk weiß, wovon sie spricht. Ein Patentrezept gegen den Verlust eines geliebten Menschen gibt es für sie nicht. Die Wunden, die ein solcher Verlust reißt, heilen niemals ganz. „Die Narben bleiben, auch Trauer und oft so etwas wie ein Phantomschmerz. Je nach Tagesform kann es einen plötzlich anfallen wie ein wildes Tier, auch nach Jahren noch.“

Ihr erster ihr nahestehender Toter war ihr Großvater, der in ihrem Elternhaus an Lungenkrebs starb als sie 12 Jahre alt war. Als sie 18 war, starb ihre Mutter mit nur 40 Jahren an Darmkrebs, zehn Jahre danach die ihr „sehr nahestehende und gerade was meinen Glauben angeht, sehr prägende Großmutter“. Weitere 15 Jahre später verlor sie Christian im Irakkrieg.

Beatrice ist also „geübt“ im Umgang mit Verlust und Trauer. Sie sagt, sie habe dadurch automatisch „eine Art Krisenmanagement“ entwickelt. „Man weiß schon, wie es sich anfühlt und ab wann man so ungefähr wieder funktioniert. Man weiß, dass man am liebsten auf eine fast-forward-Taste  drücken würde, um zu dem Zeitpunkt zu gelangen, an dem es wieder leichter wird, aber wenn du nicht alles er- und durchlebst, kannst du es auch nicht bewältigen.

Verdrängen sollte wirklich keine Taktik werden. Schmerz und ein Stück Leere, Trauer und Entwurzelung bleiben immer zurück. Sie bestimmen nur nach einer Weile immer weniger deinen Alltag und dein Handeln. Irgendwann hört es zwar auf, akut weh zu tun, aber es vergeht kein Tag, an dem man nicht an diese Menschen denkt – diese Gefühle werden zu einem natürlichen Bestandteil des eigenen Lebens. Man glaubt vielleicht, in seinem Handeln und im Umgang mit anderen Menschen nicht mehr davon beeinträchtigt zu sein; aber ich glaube schon, dass eine irreversible ‚Macke‘ bleibt, mit der die einen besser, andere schlechter zurecht kommen im Umgang mit der trauernden Person.“

Die Stiftung, die Arbeit in Christians Namen und Sinn, sein Verlust bestimmen bis heute Beatrices Leben. Aber sie hat ihren Weg gefunden, ist dem Leben verhaftet und fühlt sich ihm verpflichtet. Viel hat sie seit Christians Tod überlegt, ausprobiert und für sich geklärt, als gut oder eben weniger gut empfunden.

Anderen Menschen zu helfen, mit ihnen zu sprechen und sich auszutauschen, sich andere Schicksale anzusehen, die das eigene relativieren, Anteilnahme, Reflexion, den Tod als Teil des Lebens anzunehmen, haben ihr selbst jedoch am meisten geholfen und fokussieren sich nicht zuletzt in ihrer Stiftungsarbeit.

„Natürlich darf man traurig sein und sollte unbedingt trauern, sich über einen längeren Zeitraum dadurch aber nicht lähmen lassen. Wenn man sich anschaut, wie schlecht es anderen geht und wie viel man selbst trotzdem noch zu geben hat, rückt das die eigenen Werte zurecht. Sich gebraucht zu fühlen, auch wenn man gerade eine große Liebe verloren hat. Das ist einfach ein viel besseres Gefühl als sich dem Leid total hinzugeben, das halte ich für einen großen Fehler. Völlig zerbrochen ist viel schwerer wieder zusammenzusetzen, als einige Risse auszugleichen.“

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„Nicht lähmen lassen“: Anderen Menschen zu helfen, hat auch Beatrice geholfen.

Gerade in der Talsohle der Depression in allen Bereichen aktiv zu bleiben und sich nicht zu verkriechen, zu schauen, wer und was einem gut tut und „sich nichts aufschwatzen zu lassen“. Mit Menschen zusammen sein, bei denen „man auch einmal schwach sein darf, die einem aber auch freundlich in den Hintern treten und nicht in der Trauer versinken lassen“. Das sind für sie weitere Faktoren, die dabei helfen, Menschen nach einem Verlust körperlich und seelisch wieder zu stabilisieren. 

Und: „Es hört sich banal an – aber ein ganz entscheidender Punkt war für mich damals Bewegung. Um eine Depression zu verhindern oder einigermaßen wieder aus ihr herauszukommen, muss man atmen. Depression ist auch Atemverweigerung, der Mensch nimmt zu wenig Sauerstoff auf. Und tiefes Atmen kommt automatisch, wenn man sich mobilisiert: Rausgehen, schwimmen, laufen, tanzen – auch oder ganz besonders dann, wenn einem verständlicherweise nicht danach ist. Wir „Westler“ trennen da häufig zu sehr den Körper vom Geist.“

Christian war einer der empathischsten Menschen, die ich je kennengelernt habe

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Nicht nur durch die Stiftungsarbeit präsent: „Er hatte das Talent, dass man sich wertvoll fühlte, machte einen zu einem besseren Menschen.“

Damit ist Beatrice wieder bei Christian angelangt, der allein schon aufgrund der Stiftungsarbeit nach wie vor eine unheimlich starke Präsenz in ihrem Leben einnimmt. Zwar hat sie wegen ihrer Tätigkeit durchaus das Gefühl, ihn dafür aus ihrem restlichen Leben auch „ein bisschen mehr rauslassen zu dürfen“. Sie geht nie an sein Grab und trägt seinen Ring seit einigen Jahren nicht mehr am Finger.

Dennoch ist es manchmal ein Problem für sie, dass Christian nach wie vor etwas Übermächtiges hat, gerade wenn sie andere Männer kennenlernt. Zum einen wegen „seiner tollen Persönlichkeit, andererseits weil im direkten Vergleich dadurch sehr leicht die Schere bei ihr im Kopf aufgeht, wenn sie sich nicht so richtig wohl fühlt und dann denkt: „Puh – das hatte ich schon besser, netter, klüger, schöner …“.

Sie weiß, dass das ungerecht, Christian kein Ex’ im üblichen Sinne ist – und im Gegensatz zu anderen auch nichts mehr falsch machen kann. Aber er war für sie eben der richtige Mann. Was das Wesen eines Menschen in seinem innersten Kern wirklich ausmacht, lässt sich sicher nicht mit Worten beschreiben, doch Beatrice versucht es trotzdem. Für sie war Christian eben ein ganz besonderer Mensch mit einer ganz besonderen Gabe. Er bewirkte, dass sie die Person sein wollte, die er in ihr sah.

„Er hatte das Talent, dass man sich wertvoll fühlte – machte einen zu einem besseren Menschen, indem man dem Bild, das er von einem hatte, gerecht zu werden versuchte. Der Achtung und Liebe, die er mir entgegenbrachte, wollte ich auf jeden Fall gerecht werden und möchte sie auch für mich selber aufbringen. Christian war einer der empathischsten Menschen, die ich je kennengelernt habe – er hatte ein unglaubliches Talent, sich in die Situation und Denkstruktur seines Gegenübers hineinzuversetzen und dadurch sein Handeln zu verstehen. Er wurde von seinen Freunden oft gebeten, in Streitigkeiten oder Krisen zu vermitteln. Er war analytisch, klug und aufmerksam, hörte Nuancen, war nie gleichgültig und dabei unglaublich humorvoll. In der ganzen Zeit, in der ich mit ihm zusammen war, hat er nie etwas gemacht, was ich schäbig fand oder irgendwie nicht nachvollziehen konnte. Das hört sich nach einer postumen Glorifizierung an – ist es aber nicht. Ich habe schon zu Lebzeiten so über ihn gesprochen.“

Sie glaubt daher nicht, dass sie größere Probleme hat, einen neuen Partner zu finden, als andere Frauen in ihrem Alter – sie hält sich vielleicht nur für etwas weniger kompromissbereit. „Weil ich einfach weiß, wie es sich anfühlt, wenn es richtig ist, und weniger will ich nicht haben. Eine neue  Partnerschaft hätte ich natürlich gerne, aber nicht um jeden Preis. Ein großer Vor- oder Nachteil: ich weiß, wie es sich anfühlen soll – weniger will ich nicht.“

Ich weiß wie es sich anfühlen soll – und weniger will ich nicht.

Der Seele eine Chance zur Entwicklung geben, an das Gute glauben -und anderen damit helfen

Das Schicksal annehmen und „immer zu versuchen, ein guter Mensch zu sein, Mitgefühl zu leben, sich ein bisschen nützlich zu machen“.

Körper und Geist, Leben und Tod. Bestehen für Beatrice von Keyserlingk auch Zusammenhänge zwischen dem Glauben, der Art und Weise des allgemeinen gesellschaftlichen Umgangs mit dem Tod und dem persönlichen, individuellen Erleben eines Verlustes?

Ein komplexes, teils auch ambivalentes Thema für Beatrice, die nicht getauft und in einem sehr offenen, spirituellen Haushalt aufgewachsen ist.

Viel weiter gefasst als im Christentum glaubt sie an Gott, der für sie allerdings nicht „der Chef, sondern alles in allem und in jedem ist. In jeder Person, in jedem Baum.“ Alles was geschieht, auch das, was ihr geschieht, sieht sie als einen Teil des karmischen Weges, als Aufgabe und einen Lehrprozess für die Entwicklung der Seele an.

Der Sinn des Lebens liegt daher für sie darin, das Leben anzunehmen, auch den Tod, und davon auszugehen, dass am Ende alles gut wird, und „nicht ignorant zu sein, der Seele ein Chance zur Entwicklung zu geben und immer zu versuchen, ein guter Mensch zu sein, Mitgefühl zu leben, sich ein bisschen nützlich zu machen“.

Beatrice von Keyserlingk weiß durchaus, dass die Umstände so manchen Todes, es den Hinterbliebenen schwermachen, „weiter an das Gute zu glauben und immer wieder aufzustehen“. 

Doch sie selbst tut es, sie bleibt im Leben.

Und so ist ihr Christian nach seinem Tod „ein warmer Mantel“, von dem sie sich beschützt, aber nicht eingeschränkt fühlt.

Impressionen

Hintergrundinfo und Danksagung

  • Die Fotografen

    Unser herzlicher Dank gilt den Fotografinnen und Fotografen, die diesen Artikel mit ihren Bildern bereichern:

    • Robert Brembeck
    • Wolf Heider-Sawall
    • Florian Goberge
    • Christine Olma
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